Liebe S., geliebte Tochter!
Einige Tage lang bist du völlig begeistert und voller Tatendrang, dann wieder folgen Ernüchterung, Traurigkeit, Versagensängste.
Du hast zur Zeit viel um die Ohren, hast nicht nur Schönes erlebt. Dass du dich dennoch immer wieder aufrappelst und weitermachst - gemäß meiner Signatur - lässt mich immer dann aufatmen, wenn du wieder in einer depressiven Phase bist. Es gibt noch keine Diagnose bei dir, aber ich kann mir vorstellen, dass du mit Depressionen zu kämpfen hast.
Ich fühle mich schlecht, weil ich dir als ganz kleines Kind zumuten musste, die Woche über für etliche Stunden ohne mich als Mutter zurechtzukommen. Wie oft denke ich, dass deine Ängste, deine Verzweiflung vor scheinbar unlösbaren Aufgaben aus dieser frühen Kinderzeit kommen.
Meine geliebte Tochter!
Als du zwei Jahre alt warst, habe ich mit dem Vorbereitungsdienst zum Lehramt begonnen. Ich musste und wollte meinen eigenen Beruf haben, wollte irgendwann finanziell unabhängig sein. Mit der Zusage deiner Großeltern, uns zu unterstützen, habe ich es schließlich gewagt, mich für die Seminarzeit zu melden.
Welch schwierige Zeit für dich und deine drei älteren Geschwister, welch schwierige Zeit für uns alle! Wir mussten funktionieren. Allesamt. Für dich als Kleinste hieß das, frühmorgens aus dem Schlaf gerissen zu werden, damit ich dich auf meinem Weg zum Dienst in einer Betreuungsgruppe abliefern konnte. Dein Weinen ging mir durch und durch! Wie oft habe ich schier blind vor Tränen am Steuer gesessen und bin traurig zur Schule gefahren.
Dir ging es in der Gruppe eigentlich nicht schlecht. Du hattest noch neun Spielkameraden und drei sehr liebevolle Erzieherinnen. Sobald ich den Raum verlassen hatte, wurdest du ruhiger und hörtest auf zu weinen. Später hast du fröhlich gespielt. Du liebtest dein Gitterbettchen mit der roten Marienkäferbettwäsche im Ruhezimmer und warst so stolz, dass du innerhalb des Betreuungsjahres von ganz allein sauber und trocken wurdest.
Doch jeden Morgen klammertest du dich an mich und weintest herzzerreißend. Noch Jahre später, wenn wir zum Freibad fuhren, das auf dieser ehemaligen morgendlichen Strecke lag, fragtest du ängstlich, wohin wir denn führen.
Als du drei Jahre alt warst, kamst du in den Kindergarten bei uns am Ort. Du hast dich problemlos in die neue Situation eingefügt, denn du warst inzwischen durchaus gruppenerfahren. Deine Kindergartenzeit habe ich in guter Erinnerung und ich glaube, du warst glücklich und zufrieden.
Nachdem die Schule für dich angefangen hatte, zeigtest du wieder vermehrt Ängste und neigtest schon früh zum Perfektionismus. Jeder i-Punkt, der nicht genau saß, rief bei dir einen Zornanfall hervor. Deine Lehrerin hat dich oft ein Musterkind genannt, doch ich als Mutter sah, wie sehr du unter Strom standest. Helfen ließest du dir nicht von mir. Mama, du hast selber deine Arbeit. Da will ich dich nicht stören. Deinen Geschwistern gegenüber warst du offener. Sie halfen dir oft.
Deine Grundschulzeit brachtest du mit Bravour zu Ende. Danach begann die Zeit auf dem Gymi. Du setztest dich immer mehr unter Druck, musstest aber auch erkennen, dass so manche Arbeit in den Sand gesetzt wurde, weil du so verbissen warst. Unter allen Umständen brauchtest du immer eine Eins. Wenn die Zensuren nicht deinem Anspruch genügten, brach eine Welt für dich zusammen. Für mich als Mama wurde es immer schwerer, dich zu stützen, dich aufzubauen, manche Schärfen abzufedern und abzumildern. Auch schienst du gar kein Selbstbewusstsein mehr zu haben. Du bezeichnetest dich als viel zu klein, viel zu jung, viel zu dumm. Ja, das hast du oft gesagt, ich bin zu dumm für dies oder jenes.
Dabei hast du viel Talent für Sprachen, kannst hervorragend musizieren und wunderbar zeichnen und malen. Diese Fähigkeiten hast du von deinem Opa väterlicherseits vererbt bekommen. Du hast diese Begabungen oft ins Schlechte gezogen. Das Klavier wurde beim kleinsten Greiffehler malträtiert, die Notenbücher flogen in hohem Bogen in die Ecke. Vor Zorn trampeltest du im Zimmer herum, schreiend, dass du das niemals könntest, niemals lernen würdest, weil du immer die Blöde wärest.
Woher kommen denn nur diese Ansichten? Ich fühle mich schuldig, obwohl ich dir keine derartigen Verhaltensweisen vorgelebt hatte. Oder hast du mit deinem Scharfsinn meine eigenen Ängste aus meiner frühen Kindheit gespürt? Hast du erkannt, dass ich damals alles ebenfalls perfekt machen musste, um meine Eltern milde zu stimmen und nicht ihre Wut zu provozieren?
Deine weiteren Schuljahre waren für uns alle Horror. Ich konnte es mit allem Trost und Zuspruch nicht schaffen, dich vor Schulaufgaben, Tests und Prüfungen aufzubauen, dich zu stützen. Du hast dich blass und unglücklich in dein Zimmer zurückgezogen und wenn ich morgens in deine verweinten Augen geschaut hatte, kamen mir die Tränen. Dann dein Satz, der heute noch in ähnlichen Worten immer noch von dir geäußert wird jetzt habe ich dich auch noch traurig gemacht. Damit genau das nicht passiert, hast du dich immer mehr zurückgezogen, weil du dachtest, für meine Traurigkeit verantwortlich zu sein. Es half alles Reden nicht.
Deine Schulnoten waren immer ok. Eines Tages erzähltest du, dass du schon lange Zeit das Gefühl hast, dich nicht konzentrieren zu können. Du würdest zu viel von den äußeren Eindrücken aufnehmen. Nach kurzer Zeit wärest du erschöpft und du hättest das Gefühl, dass du diesen Stresslevel aufbauen musstest, um Leistung zu erzielen. Der zu Rate gezogene Kinder-und Jugendpsychologe konnte nichts Auffälliges feststellen.
Vor dem Abi war daheim Land unter, liebe S. Damals kam bei mir der schreckliche Gedanke, du könntest dir was antun, weil du von den dir gestellten Aufgaben - auch die selbst auferlegten - auf voller Länge überfordert warst. Ich setzte alles daran, dir so nah wie möglich zu sein, um im Notfall helfen zu können. Rund um dein Abi und während deines Studiums (Lehramt, was sonst ) hast du den Wert unseres Familienzusammenhaltes erkannt. Wieder ging es auf und ab, wenn Anforderungen anstanden, aber im Großen und Ganzen waren diese Jahre glücklich für dich. Du hattest deinen ersten festen Freund und ein Jahr später lerntest du deinen Partner kennen, mit dem du nun schon mehrere Jahre zusammenbist, mit dem du die Führung eines gern besuchten Restaurants und Weinlokal als gemeinsames Projekt sahst.
Nach der ersten Lehramtsprüfung wolltest du erst einmal ein Jahr pausieren, um dich zu orientieren. Eurer Restaurant blühte weiter auf. Wir als Eltern liebten es, bei dir und St. einzukehren. Inzwischen warst du auch bei St. eingezogen.
Dann kam deine Entscheidung, dich für den Vorbereitungsdienst zu melden. Der erste Schock, deine Einsatzschule lag 80 Kilometer von daheim entfernt. Der zweite Schock: Du hast eine vorlaute Klasse bekommen, die du erst nach einiger Zeit bändigen konntest. Die Hin-und Rückfahrten zur und von der Schule nach Hause wurden mehr und mehr zur Belastung. Doch du wolltest unbedingt abends bei deinem St. sein. Nachdem das erste Seminarjahr vorbei war, wurdest du an eine Brennpunktschule versetzt. In der neuen Klasse, die deine Prüfungsklasse hätte werden sollen, bekamst du keinen Fuß auf den Boden. Dazu kamen die dienstlichen Forderungen, der Notendruck für dich. Du wurdest körperlich immer weniger und schwächer. Blass, abgemagert, unglücklich standest du oft vor uns und warst froh, wenn wir dich ein bisschen aufpäppeln konnten. Du warst zu müde und zu erschöpft zum Essen. Manchmal haben wir dir warmen Grießbrei eingeflößt, damit du was in den Magen bekamst. Längst wäre es Zeit gewesen, zum Arzt zu gehen. Er hätte dich sofort aus dem Verkehr gezogen. Doch du hattest nur den Gedanken, weiterblockern zu müssen. Andere schaffen es doch auch, sagtest du. Ich hätte es in deiner siebten Klasse nicht eine einzige Stunde bei diesen unverschämten und respektlosen Schülern ausgehalten. Du hast das ein Vierteljahr ertragen. Mit deinem St. gab es keine gemeinsamen Zeiten mehr. Wenn er spätnachts nach der Tagesabrechnung in die Wohnung kam, warst du gerade eingeschlafen und musstest wenige Stunden später wieder aufstehen. Ich habe jeden Tag Angst gehabt, dass dir wegen deiner Müdigkeit und deiner Angst vor dem Schultag etwas auf deiner Fahrt zustoßen könnte. Alle Hilfe hast du zurückgewiesen und gesagt, dass du doch erwachsen wärest und du schon das Richtige machten würdest. Da warst du schon so krank, dass du deinen Zustand nicht mehr einschätzen konntest. Unsere Bitten, dich einem Arzt anzuvertrauen, hast du nicht hören wollen. Auch den juckenden Hautausschlag und die Fieberschübe nahmst du nicht wahr.
Dann kam der Tag, an dem dir dein Körper sagte, stopp. Nach einem Elternabend kurz vor Weihnachten 2017 warst du auf einen Autobahnparkplatz gefahren und hattest dort einen völligen Blackout. Du wusstest deinen Namen nicht mehr, wusstest nicht, wo du warst und woher du kamst. Umsichtige Menschen haben die Notlage erkannt und sowohl den Notarzt als auch uns Eltern verständigt. Wir konnten dich noch in derselben Nacht mit nach Hause nehmen, nachdem man dich gut und rasch stabilisiert hatte. Die Hausärztin schrieb dich für die nächsten 4 Wochen krank. Und du warst so richtig krank, nicht nur körperlich. Dein Burnout war zu offensichtlich.
Schließlich meldetest du dich aus dem Vorbereitungsdienst ab. Wir atmeten auf, dass du erst einmal durchschnaufen konntest. Doch du siehst dein angebliches Scheitern bis heute als schlimme persönliche Niederlage an. Du beschimpfst dich wieder als zu dumm und als zu klein. Sobald mehr als drei Dinge zu tun sind, bekommst du Panik, dein Pensum nicht schaffen zu können. Dabei gibt es nur das von dir selbst zeitlich gesteckte Ziel. Du machst dir den Druck und weißt es auch. Von deinem St. hast du dich im Mai getrennt, doch so richtig nun auch wieder nicht. Du zogst zwar aus der gemeinsamen Wohnung aus, wohnst nun wieder bei uns, aber ich sehe, dass du nicht glücklich bist. Du hättest gern Hilfe, sprichst die Bitte aber nicht aus, denn du hältst dich dann für rücksichtslos. Wir aber wollen dir helfen, dir so manche Not abnehmen, Wir sind doch deine Eltern, S.!
Ich habe in all den Jahren nie die Balance gefunden zwischen Umsorgen, Überbehütung, Gewähren lassen, Vertrauen in dich als Erwachsene zu setzen. Für mich ist es unerträglich, dich auch bewusst einmal schlechte Erfahrungen machen zu lassen. Ich möchte dir unangenehme Telefonate abnehmen, mit dir zum Hautarzt gehen, denn du leidest unter deiner Akne.
Wenn es dir nicht gut geht, geht es mir auch nicht gut. Vorhin suchte ich nach diesem Thread, fand ihn aber nicht gleich.
Nun hast du eine eigene Wohnung gefunden und bist dabei, nach und nach dort einzuziehen. Heute Morgen ging es mir auch nicht gut, als du mit uns telefoniertest und sagtest, dass noch so unglaublich viel vor dir läge, bis du einziehen könntest. Du wurdest erst ruhiger, als deine Geschwister mit Rat und allerlei Gerät bei dir erschienen und dich mit ihrer Hilfe deinem Einzug ein großes Stück näher brachten. Dass du immer so schnell verzweifelst, tut mir so leid. Und weißt du was, liebe S.? Das musst du von mir haben. Jedes noch so kleine Ding, das sich mir in den Weg stellt, lässt mich verstummen. Dann ziehe ich mich zurück, so wie du es machst.
Ich will dir nochwas sagen. Mutter bleibt man glaub ein Leben lang. Aber sich in gesundem Maß zu entmuttern habe ich leider versäumt.
Ich vertraue dir, dass du deinen neuen Weg gehst und immer weiter machst, weil es halt nicht anders geht.
Vertrauen lernen, weil du als meine Tochter trotz deiner Schwäche so stark bist.
Dein Vater und ich lieben dich sehr.
05.09.2019 20:25 •
x 4 #30