Anchiwa4964
Wir kennen uns schon seit unserer Grundschulzeit.
Was haben wir zwei Mädels auch als Teenis an tollen Erlebnissen gehabt! Wir waren Freundinnen. Doch sind wir das noch?
Wenn wir uns trafen, war es dir wichtig, zu berichten, wie toll es bei euch läuft. Nichts war zu teuer, zu groß für euch und du erzähltest davon ziemlich angeberisch. Ich schwieg.
Meine Berichte tatest du mit einem verbalen Schulterwurf ab. Du erwähntest einst, dass dir ein Leben, so wie ich es habe, spießig vorkommt. Und wer wird denn heutzutage schon in einer Kleinstadt Lehrer! Wer tut sich die Strafe an, so sagtest du damals und setzt vier Kinder in die Welt. Bei so einem Leben käme man ja nie mehr ins Kino, ins Theater, in die Vernissage, ins Konzert. Freilich, gegen die bayerische Millionenstadt, in deren Nähe du wohnst, kommt unser beschauliches W. nicht mit.
Du konntest nicht verstehen, dass mir mein Beruf, meine Familie, gelegentliche Reisen durchaus genügen, um aus tiefstem Herzen zufrieden zu sein.
Auch heutzutage ist es noch so. Tochter wohnt im Ausland, ganz mondän und schick, hat einen reichen Mann, einen supertollen Beruf und obendrein noch ein niedliches Baby. Das zugegeben ist wirklich ein herziges Kind. Sohn hat sonstwo studiert, hat die große weite Welt erkundet und eine hübsche Partnerin. Dass die Familie Wurzeln aus aller Herren Länder hat, ist dir wichtig. Nun denn, dann ist das eben so. Ich bin nicht neidisch. Meine Familie gibt mir ebenso wie deine Halt.
Doch du schaffst es immer wieder, dass ich mich kleiner, geringer, unscheinbarer und irgendwie ärmer fühle.
Ich habe lange überlegt, ob ich dir von meinen Depressionen und der Angsterkrankung erzählen soll. Deine Reaktion darauf war genau so, wie ich sie mir vorstellte. Ach je, du Arme. Ach, das ist ja ein Mist. Gut, dass ich das nicht habe, sonst könnte ich ja nie wieder Urlaub machen, weißt du, wir müssen nämlich bald einmal das Land x. erkunden, natürlich nur in eine 5* Unterkunft, ja und dann könnte ich ja auch nie wieder richtig ausgehen. Wie hältst du das denn aus?
Aber eigentlich wolltest du das nicht wissen. Es war dir ein Triumph, mir zu zeigen, dass du in deinen Augen die Normale bist und ich diejenige, die spinnt.
Gestern hast du am Telefon den Vogel abgeschossen. Als du mir deinen Anruf mit einer Nachricht angekündigt hast, erwähnte ich, nichts von Corona hören zu wollen, denn genau darüber wolltest du so dringlich erzählen. Kaum hatte ich gestern den Hörer abgehoben, bist du vor Mitteilungsgier und Sensationslust schier explodiert. Noch ehe ich reagieren konnte, bekam ich die Info, dass dein Schwiegervater an C* gestorben ist, dass dein Mann sich infiziert, aber keine Symptome hatte und die Schwiegermutter nun im Pflegeheim ist. Du hast wie von einem tollen Event berichtet, an dem du teilhaben durftest. Auf mein Stopp hast du nicht reagiert. So peitschten auch die nächsten Infos heraus, die mir Angst machten.
Angst gibt es in deiner Vorstellung nicht. Oder doch und du gehst anders damit um?
Weißt du, H. , ich habe überhaupt keine Lust mehr, mit dir zu telefonieren und schon gar nicht, irgendwann mich mit dir zu treffen. Lass mich in Ruhe.
ICH bin mit meinen Angststörungen genauso normal wie jeder andere Mensch auch. Eine so genannte Freundin, die für sich einen Nutzen daraus zieht, mich klein zu halten, brauche ich nicht.
Machs gut, das meine ich ehrlich, und lebe DEIN Leben. Aber mische dich nicht ungefragt in meines.
Mayke