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Rücksichlosigkeit ist anerzogen

Sifu
Der Mensch wird offenbar als Altruist geboren.

Hüther: Rücksichtslosigkeit ist anerzogen

10.11.2023 16:29 • x 1 #1


Oli
Erstmal meckern!

Hüther wird in Wiki als Neurobiologe und Verfasser populärwissenschaftlicher Schriften beschrieben.

Leider trennt er beides nicht immer sauber voneinander, so mein Eindruck. Als jemand, der sich nicht wissenschaftlich mit Gesellschafts- oder Sozialwissenschaften, Pädagogik oder Psychologie beschäftigt hat, würde ich mir wünschen, er würde mehr Zurückhaltung üben, wenn es um die Übertragung seiner neurobiologischen Erkenntnisse auf die moderne Gesellschaft geht.

Er kann natürlich gerne seine Meinung darüber in Bücher schreiben. Diese, seine Meinung, aber als besonders fundiert erscheinen zu lassen, weil er auf dem Gebiet der Neurobiologie eine Koryphäe ist, vermiest mir als Pädagogen etwas die Laune.

Die Erziehungswissenschaften und die Psychologie haben schon lange ganz brauchbare Theorien zum Lernen und zum Großwerden, die sich aber vielerorts nicht in der Alltagspädagogik niedergeschlagen haben.

Und jetzt drehe ich das mal zum Guten:

Insofern kann es mir als Pädagoge ja nur Recht sein, dass das, was wir uns schon lange für Schülerinnen und Schüler wünschen, vielleicht durch Herrn Hüther und Co. endlich Gehör findet.

Ich finde die Unterstellungen der Erwachsenen, wie intrigant, faul und hinterhältig das Kind an sich ist, unerträglich. Und ich erlebe das fast täglich, auch wenn viele das natürlich von sich weisen würden.

Dass Kinder die Erwachsenen „austesten“ halte ich für schlicht falsch. Kinder folgen ihren Impulsen - und wenn eine neue Person da ist, lernen sie bei dieser Person neu, welche Impulse zugelassen werden. Wir Erwachsene sind aber leider zu egozentrisch, als dass wir mal von unserer Weltsicht abstrahieren könnten, dass alle immer gegen uns sind. Da langt halt das Gehirn nicht. Aber man kann doch von uns Erwachsenen zumindest erwarten, dass wir genau das wissen und reflektieren.

Es sind in der Regel die Unterstellungen von uns Erwachsenen, die die Kinder dann tatsächlich faul und opportunistisch werden lassen.

Einzelbeispiele:

Ich schiebe meine Tochter mit drei Jahren auf ihrem Roller, weil sie sich das von mir gewünscht hat. Eine Bekannte - Mutter von zwei Kindern und Therapeutin - wendet ein: „Das würde ich nicht machen. Die gewöhnen sich da ganz schnell dran“ Ich habe mich gefragt: „Wer sind DIE und was bedeutet „DA“. Ich schob meine Tochter weiter im Vertrauen darauf, dass ein drei-Jahre-altes Kind einen großen Bewegungsdrang hat und es schon einen triftigen Grund haben wird, dass sie geschoben werden möchte. 20 Meter weiter sagt sie: „Papa, bitte höre auf mich zu schieben, ich möchte selbst fahren“. Ich kann nur spekulieren, was der Grund ihrer Bitte war, geschoben zu werden: Sie hatte den Roller noch neu und er war durch einen Knauf über die Vorderräder lenkbar. Zusammen mit dem Treten ist das am Anfang eine motorischen Herausforderung. An der Stelle, an der sie mich bat, war der Bürgersteig sehr eng. Da war lenken Herausforderung genug für sie.

Was wäre passiert, wenn ich mich geweigert hätte, sie zu schieben, „damit DIE sich nicht DARAN gewöhnen“? Es hätte Streit gegeben. Ich hätte mich vermutlich durchgesetzt. Meine Tochter hätte dadurch gelernt, dass ihre Bedürfnisse nicht gehört werden und sie von mir überfordert wird, was sie letztlich vorsichtig werden lässt, Dinge auszuprobieren: Erziehung zu Faulheit und Hinterhältigkeit allein durch falsche Unterstellung von Erwachsenen, die zuviel von sich ausgehen.

Ich habe meine Tochter im Bad dabei gesehen, wie sie mit Wasser herumgespritzt hat. Das wollte ich nicht und habe sie, hinter ihr hergehend, aus dem Badezimmer komplimentiert. Dann ist sie plötzlich an mir vorbei zurück ins Badezimmer gewitscht. Ich habe nach ihr gegriffen, sie aber verfehlt. Ich habe ihr unterstellt, mich ausgetrickst zu haben, um weiter mit Wasser rumspritzen zu können. Was hat sie aber stattdessen gemacht? Sie hat den Wasserhahn richtig zugedreht. Hätte ich nicht daneben gegriffen, als sie an mir vorbei gezischt ist, hätte es evtl. negative Konsequenzen für sie gehabt auf Grund einer falschen Unterstellung von mir. Was hätte sie daraus wohl gelernt? Vielleicht, dass sie für gute Absichten bestraft wird und man daher sowas dann also am besten nicht mehr hat.

10.11.2023 22:13 • x 5 #2


A


Hallo Sifu,

Rücksichlosigkeit ist anerzogen

x 3#3


BlackKnight
Gut geschrieben @Oli.....

Ich halte es auch für ne sehr steile These ‍️

Im Tierreich ist Rücksichtlosigkeit unter Tierbabys eine Überlebensstrategie....

10.11.2023 22:30 • #3


HDD
Zitat von Oli:
Dass Kinder die Erwachsenen „austesten“ halte ich für schlicht falsch. Kinder folgen ihren Impulsen - und wenn eine neue Person da ist, lernen sie bei dieser Person neu, welche Impulse zugelassen werden.

Zu lernen, welche Impulse zugelassen werden - würde ich schon als einen Test bezeichnen. Als was sonst?

Deine Beispiele treffen im Übrigen nicht ganz das, was ich (und wohl auch viele andere Leute) als typischen Test einer Grenze ansehen würden.

Das typische Beispiel für einen Test ist das Kind, das sich am Süßigkeitenregal im Supermarkt festklammert und eine Szene macht, wenn es nicht seinen Lieblingslolli bekommt. Da geht es um Bedürfnisbefriedigung und einen kleinen Machtkampf. Das sehe ich bei deinen Beispielen nicht ganz so deutlich.

10.11.2023 22:52 • x 1 #4


BlackKnight
Gute Vertiefung @HDD... Thx

10.11.2023 22:58 • #5


Oli
Zitat von HDD:
Zu lernen, welche Impulse zugelassen werden - würde ich schon als einen Test bezeichnen.

Es ist insofern kein Test, als das Kind eben NICHT mit dem Hintergedanken etwas absichtlich deshalb macht, was es bei einer anderen Person nicht machen darf.

Merkmal eines Tests ist ja, dass man die Situation im vorhinein denkt. Vielen Kindern unterstellt man dieses Verhalten, obwohl das rein biologisch gar nicht geht, weil die Kinder in einem gewissen Alter noch nicht formal denken können und erst Recht noch keine Theorie of Mind entwickelt haben - also sich nicht denken können, was der andere wohl denken oder machen kann.

Zitat von HDD:
Das typische Beispiel für einen Test ist das Kind, das sich am Süßigkeitenregal im Supermarkt festklammert und eine Szene macht, wenn es nicht seinen Lieblingslolli bekommt. Da geht es um Bedürfnisbefriedigung und einen kleinen Machtkampf.

Die Frage ist doch, was dem alles schon voraus gegangen ist, dass das Kind sich am Süßigkeiten-Regal festklammert. Das tut es ja auch gerade deshalb, weil wir Erwachsenen schon im Vorraus das Kind auf diese Fährte bringen. Das Kind will einen Keks und wir sagen ihm sofort, dass es aber nur einen gibt. Wir unterstellen dem Kind von Anfang an, dass es maßlos ist und uns austricksen will. Das sind UNSERE Erfahrungen als Erwachsene.

Was Machtkämpfe anbelangt, sollten sich meines Erachtens Erwachsene am besten gar nicht darauf einlassen - und wenn es nicht anders geht, nur dann, wenn sie in einer Situation sind, in der sie den Machtkampf auch sicher gewinnen werden.


Zitat von HDD:
Das sehe ich bei deinen Beispielen nicht ganz so deutlich.

Die Beispiele sind Einzelbeispiele ohne einen Anspruch, damit etwas beweisen zu können. Es ging mir darum, plausibel zu machen, was ich hauptsächlich meinte, nämlich, dass wir oft Kindern Dinge unterstellen, die vollkommen falsch sind und die aus einem ständigen Misstrauen gegen unsere Kinder resultieren, zu dem es im Grunde keinen Anlass gibt, außer dem, dass wir aus unserer Erwachsenenwelt Schlüsse auf die Kinderwelt ziehen. Und damit groteskerweise erreichen, dass unsere Kinder genauso werden, wie wir es ihnen (falsch) unterstellt haben. Das finde ich echt verrückt.

10.11.2023 23:20 • x 2 #6


BlackKnight
Danke für eure Sichtweisen... für mich sehr interessant

10.11.2023 23:22 • x 1 #7


HDD
Zitat von Oli:
Merkmal eines Tests ist ja, dass man die Situation im vorhinein denkt.

Keineswegs. Es gibt eine Menge Tests (ich würde sogar sogar sagen, die Mehrheit), die vollkommen unbewusst ablaufen.
Zitat von Oli:
Wir unterstellen dem Kind von Anfang an, dass es maßlos ist und uns austricksen will. Das sind UNSERE Erfahrungen als Erwachsene.

Was du sagst, klingt so... wertend. Ich nehme an, es ist nicht so gemeint.

Sicher sind Kinder maßlos, solange sie das Maßhalten nicht gelernt haben. Wie sollte es anders sein? Ich finde das normal. Es ist unsere Aufgabe, ihm zu einem gesunden Verhalten Grenzen gegenüber zu verhelfen.
Dass es uns austricksen will: Das glaube ich nicht. Es will seine Bedürfnisse erfüllt bekommen und lernt durch Versuch und Irrtum, was funktioniert und was nicht.

Zitat von Oli:
Was Machtkämpfe anbelangt, sollten sich meines Erachtens Erwachsene am besten gar nicht darauf einlassen

Wenn man nicht nachgibt, hat man den Test bestanden. Man kann sich nicht nicht darauf einlassen, genauso, wenn man nicht nicht kommunizieren kann. Irgendeine Reaktion muss man ja zeigen.

Zitat von Oli:
dass wir oft Kindern Dinge unterstellen, die vollkommen falsch sind

Das glaube ich gerne...
Zitat von Oli:
und die aus einem ständigen Misstrauen gegen unsere Kinder resultieren

Das ist bedauerlich. Ich frage mich, woher das kommt - vielleicht aus einem generellen Misstrauen anderen Menschen gegenüber? Ich habe das nie so empfunden.

10.11.2023 23:46 • x 2 #8


Oli
Zitat von HDD:
Es gibt eine Menge Tests (ich würde sogar sogar sagen, die Mehrheit), die vollkommen unbewusst ablaufen.

Da gebe ich Dir Recht. Aber ich glaube schon, dass Kindern eine bewusste Absicht unterstellt wird, was man an den Sanktionen ablesen kann. Dabei werden die Kinder in ihren Möglichkeiten überschätzt und verstehen die Welt nicht mehr, auf Grund der für sie unverständlichen Reaktion auf ihr Verhalten.

Ich finde, es ist kein Test, wenn ein Hund einem Hasen hinterherläuft und nicht auf mein Kommando hört, stehen zu bleiben, wenn ich den Hund zum ersten Mal ausführe.
Beim Frauchen macht er das nicht, weil das viele Male geübt wurde.
Ich würde dem Hund nicht unterstellen, dass er mich austestet. Er folgt seinem Impuls, dem möglichen Abendessen hinterherzujagen.
Dem Hund wird dann das erwünschte Verhalten mit positiver Verstärkung beigebracht.
Den Kindern oft genug noch mit Strafe und eben Machtkämpfen.

Natürlich ist ein Kind auch in jungem Alter komplexer gestrickt als ein Hund. Die Gegenüberstellung sollte nur bekräftigen, dass wir bei Kindern eben oft eine Absicht gegen uns unterstellen (wo keine ist).


Zitat von HDD:
Man kann sich nicht nicht darauf einlassen

Doch, das geht sehr gut. Zum
Machtkampf kommt es erst, wenn der eigentliche Gegenstand des Streits in den Hintergrund tritt.

Wenn sich ein Kind am Süßigkeitenregal festklammert, dann ist vorher vermutlich schon einiges schief gelaufen. Kinder wollen an Entscheidungen beteiligt werden, sie wollen sich als wirksam erleben, wie jeder Mensch. Wenn dem Kind beim Einkauf ständig nur gesagt wird, was es nicht darf, was es nicht bekommt und es nicht an Entscheidungen beteiligt wird, dann kann das zu einer sehr starken Demonstration des eigene Autonomiewillens kommen.

Und wenn das Kind oft mit Süßkram vollgestopft wird, weil es dann ruhig ist (es ist erstaunlich zu beobachten, was auf den Spielplätzen, auf denen ich unterwegs war, an Kinder regelrecht verfüttert wurde), dann ist dem Kind am Süßigkeitenregal natürlich nicht begreifbar zu machen, dass es jetzt nichts bekommt. Spätestens am Süßigkeitenregal müsste man sich dann Zeit für das Kind nehmen. Wenn man die nicht hat, weil die Parkdauer überschritten ist und schon Knöllchen verteilt werden, dann sollte man den Machtkampf tunlichst verschieben, in dem das Kind seinen Willen bekommt. Ungünstig, aber besser als in den Machtkampf einzusteigen und ihn zu verlieren, weil man ihn abbricht und zum Auto rennt.

Sind die Süßigkeiten gekauft, können sie im (stehenden) Auto rationiert werden oder dort findet eben notfalls auch der Machtkampf statt, weil man ausreichend Zeit hat, sich mit dem Kind auseinanderzusetzen.


Zitat von HDD Was du sagst, klingt so... wertend. Ich nehme an, es ist nicht so gemeint.

Doch, leider ist es wertend gemeint:
Ich finde es in der Tat unerträglich, was ich in meinem Alltag erlebt habe, welche Unterstellungen von böser Absicht Kinder sich gegenüber sehen. Das kommt für mich ganz klar erkennbar von der Weltsicht der Erwachsenen und wie sie ständig nur darauf aus sind, ihren eigenen Vorteil zu suchen und andere auszutricksen. Das lernen Kinder schlicht von uns.

11.11.2023 00:58 • x 2 #9


Sifu
Unser Kinderarzt nannte meine Tochter ein alleinerziehendes Kind .....ich war wohl zu gutmütig

11.11.2023 01:22 • x 2 #10


Oli
Zitat von Sifu:
Unser Kinderarzt nannte meine Tochter ein alleinerziehendes Kind .....ich war wohl zu gutmütig

Das kann ich natürlich nicht beurteilen.

Aber ich bin ja bekennender Kuschelpädagoge, wobei ich der Meinung bin, dass jene, die den Begriff diffamiernd verwenden, nicht genau wissen, was Kuscheln alles kann.

11.11.2023 01:27 • x 1 #11


A


Hallo Sifu,

x 4#12


HDD
Zitat von Sifu:
Unser Kinderarzt nannte meine Tochter ein alleinerziehendes Kind .....

Der ist gut... you made my day!

11.11.2023 01:31 • x 1 #12