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Wem ist die Krankheit Dysthymie bekannt ?

aurora333
Liebe Community,

nachdem ich gestern einem forenunkundigen Freund über meine Erfahrungen hier berichtete ( ich bin selbst praktisch neu dabei ) , und erwähnte auf welch mannigfaltige Weisen man sich hier gegenseitig hilft und Anregungen gibt, bat er mich spontan, doch mal nach zu fragen, ob jemand wie er an Dysthymie leidet. Denn er kennt niemanden mit dieser Diagnose.

Die Krankheit drückt sich bei ihm - seit frühster Kindheit - so aus, dass er sich stets zu allem richtiggehend aufraffen muss. Auch ermüdet er schnell und fühlt sich so auch angeschlagen, depressiv.

Soziale Probleme im Sinn von Berührungsängsten hat mein Freund nicht, denn er trifft viele Menschen. Er macht auch als freiwilliger Helfer bei etlichen Organisationen aktiv mit. In letzter Zeit musste er jedoch ( wegen der Dysthymie) kürzer treten, was ihm zu schaffen macht.

Erwähnenswert ev. noch, dass mein Freund in einer äusserst restriktiven Sekte aufwuchs, und trotz seines Austritts vor bald 20 Jahren ( er ist heute 63 Jahre alt) immer noch sehr angepasst ist , und grosse Schwierigkeiten beim Nein-Sagen, bzw. die eigenen Grenzen verteidigen hat. Vielleicht trägt diese Haltung, es stets allen recht zu machen zu müssen, und niemanden zu enttäuschen mit zur generellen Überforderung ( Müdigkeit. ?) bei, doch meinen Freund beschäftigt vor allem der Dysthymie-Anteil. Kennt jemand von Euch diese Krankheit oder hat sich ev. sogar selbst ?

15.02.2022 07:40 • x 2 #1


Catalie
Hallo,
meine offizielle Diagnose ist mittelgradige Depression, von Dysthymie hat nie ein Arzt oder Therapeut gesprochen. Seit ich mich aber näher damit befasst habe, gehe ich davon aus, dass ich Dystjymie habe. Ich finde mich zumindest in sehr vielen Punkten wieder. Ich kann das Buch von Tim Raether Bin ich schon depressiv oder ist das nur das Leben sehr empfehlen. Mich hat es sehr berührt, weil es so genau meine Gefühle beschreibt, ich habe es bis heute nicht geschafft es fertig zu lesen (obwohl es ein wirklich dünnes Buch ist und ich super viel und gerne lese) es war oft so nah an mir darn, dass es zu schmerzhaft ist, viel am Stück zu lesen, trotzdem hat es mir geholfen, weil ich mich so vorher nie verstanden gefühlt habe, wie in der beschreibung in diesem Buch. Das war auch ein Tipp hier aus dem Forum, es gibt dazu auch einen eigenen Thread, ich weiß nur immer nicht, wie am alte Beiträge wieder findet.

Viele Grüße an deinen Freund.

15.02.2022 09:41 • x 3 #2


A


Hallo aurora333,

Wem ist die Krankheit Dysthymie bekannt ?

x 3#3


Mira13
Bei mir ist es auch sehr eindeutig, aber noch nicht diagnostiziert. Unterschwellig begleitet mich die Depression auch schon, vermutlich seit meiner Kindheit. Da bin ich aber allgemein noch auf der Suche.
@Catalie , das Buch lese ich auch gerade und finde mich so sehr wieder. Man fühlt sich so verstanden irgendwie.

15.02.2022 09:57 • x 3 #3


aurora333
Liebe @Catalie und liebe @Mira13,

vielen Dank für Euer Feedback . Es wird meinem Freund gut tun, zu hören, dass er nicht allein ist !

Das Buch von Tim Raether werde ich ihm empfehlen. Ich kann mir gut vorstellen, dass ihm ein Sich-Wieder-Finden hilft, denn er hat mich bestimmt auch deshalb gebeten seine Krankheit hier zum Thema zu machen. Und wenn es ihm zu viel werden sollte, wie Du das liebe @Catalie grad erlebst, dann kann er es ja auch jederzeit beiseite legen oder eine Verdauungspause einschalten. Das habe ich selbst genauso gemacht, wenn mir etwas im Moment zu nahe ging.

Ich wünsche Euch alles Gute und viel Kraft

15.02.2022 10:07 • x 4 #4


Kitten
Hallo allerseits
Von dieser Diagnose habe ich noch nie was gehört, hier kann ich dir also leider nicht weiterhelfen, @aurora333. Ich werde mich aber auch mal näher informieren darüber, irgendwas wurde beim Lesen in mir angeklungen. Danke für den Hinweis!

Was ich auch kurz hierlassen wollte: Ich habe das Buch von Till Raether kürzlich von der Bibliothek ausgeliehen, doch gelang es mir wie Catalie nicht, es fertigzulesen, obwohl es so dünn ist. Irgendwie war es mir zu redselig, aber doch nicht so relevant für mich, dass es mich richtig gepackt hätte. Schwierig zu beschreiben.

@Catalie: Es gibt eine gute Suchfunktion hier (oben in der blauen Hauptnavigation). Da kannst du nach Stichworten suchen und es zeigt dir dann alles dazu an. Egal ob im Titel des Beitrags oder in Unterforen. Habe auch schon ein paarmal auf die Suche zurückgegriffen

15.02.2022 11:18 • x 2 #5


X
Ja, mit dieser Diagnose bin ich auch geschmückt: Eine chronifizierte Depression, die aber nicht das Ausmaß einer depressiven Episode erlangt, dafür länger anhält. Häufig gibt es auch die Doppeldiagnose Dysthymie und rezidivierende Depression, was dann als Double Depression bezeichnet wird.

Die Grenzen sind m.E. ohnehin fließend. Von der Lethargie zur Dysthymie zur Depression. Wie schon des öfteren hier angeklungen: Ich finde Diagnosen schwierig.

15.02.2022 11:51 • x 6 #6


maya60
Meine Psychologin erwähnte neulich bezogen auf meine 2 verschiedenen Depressionsarten, einmal die chronische und dann die begrenzten Episoden schwerer Depressionen, die Begriffe Double Depression und Dysthymie.

Ärztlicherseits habe ich nur die Diagnose der chronischen Depression.

Sicherlich habe ich eine Double Depression, das habe ich ja selber schon gemerkt, aber soweit ich Dysthymie bisjetzt verstanden habe, begleitet sie einen eben in abgeschwächter Form von Kindheit an, während ich ja erst ab dem Jugendalter erste depressive Erschöpfungszusammenbrüche erlitt und zunehmend in eine chronische Erschöpfungsdepression hineinrutschte, die ihrerseits aber auch mittel bis schwer war bis zum nächsten Zusammenbruch.

Durch ein verändertes Leben jetzt mit Diagnosen im Alter bin ich die Erschöpfungsdepression ja immer mehr los geworden von Jahr zu Jahr mehr und mit der Bearbeitung meines Kindheitstraumas auch immer mehr die Episoden schwerer Depression, so dass ich seit Februar letzten Jahres kaum oder nur noch tage- oder wochenweise damit schwerer zu tun hatte und nicht mehr ständig in dieser flachen Stimmung im Kopfnebel unterwegs bin.

Also, ohne meine ständigen A.DHS-Symptome gäbe es ja in meinem Leben keine chronische Erschöpfungsdepression, das ist also nicht Dysthymie bei mir. Denn Dysthymie ist ja schon etwas wie eine depressive Persönlichkeit zu sein, was ich nicht war als Kind und Jugendliche, danach auch nicht im Vollbild und jetzt im Alter auch nicht. So wie ich das verstehe, ohne zu wissen, ob es fachlich richtig ist.

15.02.2022 12:21 • x 2 #7


aurora333
Vielen Dank an Euch alle für die vielen Informationen ! Falls Du liebe @Kitten noch auf hilfreiches Material stossen solltest, sage ich nicht nein danke, wenn Du glaubst es könnte auch meinem Freund etwas bringen.

Generell bin ich auch sehr sehr vorsichtig wenn es zu Diagnosen kommt , und was Ihr beide schreibt @Lischen und @maya60 beweist die Vielfalt der Möglichkeiten. Ich habe mir alles was Ihr über die verschiedenen Arten und Formen herausgeschrieben, um das dann A. zu präsentieren, bzw. ihn zu fragen ob und wie weit er das bei sich ähnlich erlebt.

Aus seinen Erzählungen könnte ich mir schon vorstellen dass das Ausmass bei ihm keine depressiven Episoden erlangt, dafür aber anhaltend ist. Und die Schwermütigkeit nimmt bei ihm jetzt beim Älterwerden zu. Wie weit da auch noch
Lethargie reinspielt frage ich mich auch, denn ich bedauerte schon ab und an, dass er nicht ( oder nur für kurze Momente, die dann gleich wieder versanden) motivierter ist nach Hilfsmöglichkeiten zu suchen. Möglicherweise hat das jedoch auch damit zu tun, dass er sich zu oft von professionellen Helfern nicht verstanden oder gesehen fühlte. In der Regel werde er von allen überschätztsagt er oft. Niemand könne so richtig die Tiefe erkennen. As Auftreten mutet generell locker an , nur mir gegenüber könne er überhaupt die andere Seite zeigen. Und wie sehr diese ihn bedrückt. Das sehe ich ihm dann auch an !

Schön liebe @maya60 dass Du durch die Behandlung Deines Kindheitstraumas wesentliche Besserung erarbeiten konntest ! Das werde ich A. sagen, und auch noch mal ans Herz legen. Auf mein Vorschlagen erkundigte sich A. alle Jahren wieder nach einem Sekten versierten Psychotherapeuten ( die Sektenbehandlung der Kinder war spartanisch, drillhaft und missbräucherisch..wurde aber offiziell unter den Tisch gewischt. Die S. sogar ein speziell tabuisiertes Thema, das andere Geschlecht des Teufels etc.), doch leider wurde A. nicht fündig. Sein Psychiater teilte ihm gleich von Anfang an mit, dass A. mit ihm über alles, nur das nicht, reden könne. Da fühle er ( der Psychiater ) sich total inkompetent.

Auch klingt bei mir von aussen das Synonym depressive Persönlichkeitsstörung an. Das müsste A. jedoch nochmals genau durchlesen. Auch eine Erschöpfungsdepression könnte zum Krankheitsbild gehören. Letztere kenne ich, weil sie zur Zeit meine Diagnose ist. Im Gegensatz zu A. wäre ich jedoch grad nicht im Stande irgendwelche Verpflichtungen oder Ämter aller Art zu übernehmen. Bei mir kommt noch dazu, dass ich medikamentös noch nicht richtig eingestellt bin.

So viel ich erinnere verbrachte A. zweimal längere Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken. Damals war die Diagnose schwere Depression. Später entliess man ihn jeweils von der geschlossenen in die offene Abteilung, doch wie viel das mit einer Diagnosenrichtigstellung oder -anpassung oder erfolgreicher Medikamentation ( Lithium) zusammen hing weiss ich nicht. Damals kannte ich A. noch nicht. Er hat auch wegen der Medikamente oder der Krankheit einiges vergessen.

Ihr lest, auch mein Wissen ist beschränkt und ich möchte mich nicht weiter auf die Äste lassen, weil ich wirklich zu wenig - grad auch über die fliessenden Übergänge - weiss. Den Buchtitel mit Autor habe ich heute morgen schon an A. weitergemailt und ich werde ihm neben dem anderen was Ihr schreibt auch sagen, dass es sich vielleicht doch noch
lohnt einen weiteren Therapieversuch zu riskieren. Möglicherweise könnte er auch ein gezieltes Inserat aufgeben, in dem
er gezielt jemanden sucht, der mit Sektenpraktiken etwas vertraut ist, bzw. sich nicht vor dem Thema scheut. Das ist jetzt aber meine neuste Idee. Ich weiss nicht, ob A. sowas würde manchen wollen.

Vielen Dank für Euer Engagement , ich fühle mich jetzt genügend und gut bedient !

15.02.2022 14:06 • x 2 #8


maya60
Zitat von aurora333:
Wie weit da auch noch
Lethargie reinspielt frage ich mich auch,

Als depressiver Mensch habe ich gelernt, dass es Lethargie oder Faulsein in meinem Leben gar nicht gibt und da, wo es so genannt wurde, jemand, oft genug ich selber in Selbstsabotage entweder Krankheitssymptom oder absolut nötige Erholung damit tragisch verwechselte.

Depressive Menschen verbrauchen Unmengen an Energie und Disziplin damit, mit oder gegen ihre Krankheitssymptome vorzugehen, das ist schon bei leichter Depression mit der Vielzahl an schweren Symptomen der Dauerfall.

Darum sind Depressive ja auch so starke Persönlichkeiten, weil sie Unmengen an mentaler Energie für den ganz normalen Alltag verbraten müssen, um nicht aus allem herauszufallen.

Das beschreibt ja zum Beispiel auch dieses Buch von Till Raether so gut über Dysfunktionale Depressive, denn im Grunde sind das alle Depressiven mehr oder weniger, solange die depressiven Symptome noch irgendwie zu ertragen sind, das ist ja das Problem. Lethargie oder Faulsein gehen so weit an der Realität vorbei, dass ich mich schon gefragt habe, ob es das überhaupt gibt oder nicht damit von Grund auf jeder und jedem unrecht getan wird.

15.02.2022 15:20 • x 7 #9


X
Nun sind Lethargie und Faulheit doch ganz verschiedene Dinge, nicht? Was ist mit Menschen, die ab und an mal träge sind, sich zu einer bestimmten Aufgabe nicht motivieren können, keine Freude empfinden im Tun. Für einen begrenzten Zeitraum in milder Form. Haben diese Menschen eine handfeste Depression? M.E. nicht. Wie siehst du das, @maya60 ?

Einem depressiven Menschen zu sagen, er wäre schlicht faul, zeugt auch für mich für großes Unverständnis der Erkrankung und dem Erkranten gegenüber. Und ist zutiefst verletzend. Hat jedoch jeder lethargische Mensch eine Depression? Ist dieser Umkehrschluss nicht sehr gewagt? Gibt es da nicht irgendwas dazwischen? Ich bin gespannt auf deine Antwort!

15.02.2022 17:29 • x 3 #10


maya60
Tatsächlich glaube ich, dass es Lethargie, Trägheit und Faulheit jenseits von Abwertungsabsichten nicht wirklich gibt. Sondern das ist Geschmackssache und Sache des Lebensstils.

Der Hektiker nennt den Nichthektiker träge und der Träge nennt den Nichtträgen hektisch.

Unmotiviert zu sein ist: unmotiviert zu sein.
Freudlos zu sein, ist, freudlos zu sein.

Gute Gründe, etwas nicht zu tun.

Und gerne zu liegen oder mehr zu schlafen als andere, ist auch Typsache

Aber bei Depressionen hat das schon gar nichts zu suchen.

15.02.2022 17:54 • x 4 #11


X
Ich würde gerne meine Gedanken sortieren und einiges dazu schreiben und fragen. Im Moment jedoch fehlt mir die Kraft dazu. Danke dir für deine Antwort, @maya60 !

15.02.2022 22:43 • x 3 #12


Uerdinger
Auch ich würde das hier gerne verfolgen.
Lethargie ,Phlegma Faulheit
Ich habe bis heute Schwierigkeiten, das auseinanderzuhalten.
Wann fing bei mir die Depression an oder bin ich von Natur aus phlegmatisch?
Fühle mich in der Workaholic Gesellschaft zunehmend unwohl.....

15.02.2022 23:57 • x 2 #13


blossom79
Hallo in die Runde,

ich habe damals - 2004 in einer psychosomatischen Reha im Abschlussbericht "Dysthymia" aufgelistet gelesen.
Aber ehrlich gesagt habe ich mich damit nicht näher befasst.

Wobei ich mir vorstellen kann, dass die das nicht ohne Grund erwähnt haben.

16.02.2022 09:09 • #14


Mira13
Zitat von maya60:
Lethargie oder Faulsein gehen so weit an der Realität vorbei, dass ich mich schon gefragt habe, ob es das überhaupt gibt

Das habe ich mir auch schon gedacht @maya60

16.02.2022 11:14 • x 1 #15


Kitten
Ich finde die Diskussion hier über die Themen Faulheit, Trägheit und Lethargie auch gerade recht spannend. Danke für eure Ausführungen. Ich bin auch schon mehrmals mit diesen Schlagwörtern konfrontiert worden, was mich sehr verletzt hat. Und zwar von einer Person im nächsten Umfeld.
Schlagwörter nenne ich sie, weil sie auf mich so eine negative Schlagkraft haben.


Betreffend Dysthymie habe ich hier noch sehr aufschlussreiche Informationen gefunden:
https://www.oberbergkliniken.de/krankhe.../dysthymie

Diese Klinik hat allgemein sehr gute Seiten mit gesammeltem Wissen über psych. Erkrankungen!

16.02.2022 11:24 • x 4 #16


Kate
Gegenfrage: Könnte es nicht manchmal auch so sein, dass man für jede Wesensart eine psychische Diagnose finden kann?
Für mich gibt es zum Beispiel Faulheit absolut. Wenn ich mir einen Teil der Gesellschaft so anschaue, ist Faulheit das perfekte Wort. Und ich finde es wiederum absolut unfair, wenn diese dann Menschen mit einer "echten" psychiatrischen Diagnose sagen, sie hätten das Gleiche.

Nur meine Gedanken dazu. Es passt auf so vieles. Menschen die zum Beispiel leicht aus der Haut fahren, ziemlich zurück gezogen leben, gesellig sind, all denen kann man eine Diagnose anhängen. Oder man belässt es schlicht und einfach bei einer Wesensart.
Einen Krankheitswert bekommt es meines Erachtens immer erst dann, wenn derjenige oder sein Umfeld darunter leiden.

16.02.2022 12:35 • #17


Kate
Zitat von blossom79:
ich habe damals - 2004 in einer psychosomatischen Reha im Abschlussbericht Dysthymia aufgelistet gelesen.

Wahrscheinlich mussten sie ja irgendwas darauf schreiben. Sonst hätte alles nicht seine Berechtigung gefunden. Und da passte das ganz gut. Wie gesagt, die Grenzen sind da ziemlich fließend.

16.02.2022 12:37 • x 2 #18


X
Naja, Persönlichkeitsstil ist was anderes als Persönlichkeitsabweichung ist was anderes als Persönlichkeitsstörung.
Ich frage mich oft, wo gesund sein aufhört und krank sein anfängt. Aber das ist eben keine Dichotomie, sondern ein Kontinuum.

Der Begriff Leid: Was ist mit einem Krebspatienten, der jahrelang nichts von seiner Erkrankung ahnt, entsprechend nicht leidet. Ist er nicht krank? Was ist mit einem Menschen, der leidet, da ein lieber Freund verstorben ist. Ist er deswegen krank? Ich finde nicht, dass Leid Krankheitswert definiert. Wenngleich Leid natürlich oft eine wesentliche Rolle spielt.

Die WHO-Definition von Gesundheit: Ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen. Da möchte ich mal fragen, wer sich in der letzten Woche vollkommen wohlbefunden hat. Keine Rückenschmerzen, keine Nackenschmerzen, kein Magenzwicken, keine Regelbeschwerden, kein Stress, keine Anspannung, kein schlechter Schlaf. Für mich ist die Definition sehr hochgegriffen. Und ich finde, schlussendlich bleibt es jedem Menschen sich selbst überlassen, wie er seinen Zustand einordnet, zu entscheiden, ob es ihm gut oder schlecht geht. Es bleibt ja auch eine Entscheidung. Und wenn ein Mensch sich dafür entscheidet, sich primär an seiner Erkrankung zu orientieren: Da tut es weh. Da auch. Es wird immer schlimmer. Wahrscheinlich kann ich mich morgen gar nicht mehr bewegen. So wird dies auch eintreffen. Und wenn sich ein anderer Mensch dazu entscheidet, seine Erkrankung zwar zu sehen, aber den Blick auch auf andere Bereiche zu richten, die ihn vielleicht trotzdem erfreuen, die ihm vielleicht trotzdem gut tun, die ihm vielleicht trotzdem Freude bereiten, so wird auch das Leid weniger Raum einnehmen. Raum zur Gesundung entsteht. Ohne in Verdrängung überzugehen.

Entscheidet sich ein Mensch dazu, zu gesunden, wird er gesunden. Entscheidet er sich dazu zu erkranken, wird er erkranken. Es ist die persönliche Entscheidung eines jeden Menschen. Aus einem kranken oder gesunden Zustand heraus.

Was keine persönliche Entscheidung ist: Äußere Einflüsse, Traumata, Verletzungen, Verluste, Gewalt; auch Vulnerabilität in meinen Augen. Menschen erkranken. Aber was Menschen aus dieser Erkrankung machen, liegt in ihren Händen.

16.02.2022 13:48 • x 2 #19


Kate
Zitat von Lischen:
Entscheidet sich ein Mensch dazu, zu gesunden, wird er gesunden. Entscheidet er sich dazu zu erkranken, wird er erkranken. Es ist die persönliche Entscheidung eines jeden Menschen. Aus einem kranken oder gesunden Zustand heraus.

Meinst Du wirklich? Der Glaube alleine heilt einen ganz und gar nicht.

Zitat von Lischen:
Ich finde nicht, dass Leid Krankheitswert definiert.

Ich schon! Alleine dadurch, dass eine Depression zum Beispiel keiner anderen gleicht. Sie lässt sich in ihrem Ausmaß schlecht messen, genau wie Leid. Wenn du mit einer grusligen Vorgeschichte in eine Depression rutschst leidest du mitunter wie ein Hund.
Was nicht unbedingt passieren muss, wenn Du ein stabiles Umfeld hast und ganz andere Möglichkeiten und Ressourcen zur Verfügung hast.
Zitat von Lischen:
Naja, Persönlichkeitsstil ist was anderes als Persönlichkeitsabweichung ist was anderes als Persönlichkeitsstörung.

Ich sprach von einer Wesensart und nicht von einer Persönlichkeitsstörung.
mein Sohn ist Autist und kommt damit gut zu recht. Dies muss derzeit nicht behandelt werden, da niemand darunter leidet, auch er nicht. Es ist halt eine andere Art des Seins und keine Persönlichkeitsstörung. Für andere ist dies wiederum sehr behandlungswürdig, weil vielleicht alle darunter leiden. Und so geht es doch mit vielen, gerade psychischen, Erkrankungen.
Zitat von Lischen:
Menschen erkranken. Aber was Menschen aus dieser Erkrankung machen, liegt in ihren Händen.

So pauschal kann man das glaube ich nicht sehen.

16.02.2022 14:26 • x 4 #20


X
Zitat von Kate:
Meinst Du wirklich? Der Glaube alleine heilt einen ganz und gar nicht.

Ja. Ich bin davon überzeugt, dass es zu großen Teilen die innere Selbstheilung und der Glaube daran sind, die Menschen heilen lassen. Ärzte, Medikamente, Therapien, das äußere Umfeld spielen natürlich mithinein. Aber schlussendlich heilt ein Mensch sich selbst. Und daran muss er glauben. Zumindest Anteile in ihm müssen daran glauben. Wenn er hingegen überwiegend glaubt, er könne nicht heilen, wird er auch nicht heilen.

Zitat von Kate:
So pauschal kann man das glaube ich nicht sehen.

Jedem Menschen bleibt ein Spielraum, wie er mit seinem Schicksal, seiner Erkrankung und den äußeren Einflüssen umgehen möchte. Und wenn es nur kleine Dinge sind. Wir können (natürlich können wir! aber ob es zu innerer Zufriedenheit führt?) nicht ständig die Vergangenheit dafür verantwortlich machen, wie unsere Zukunft aussieht. Irgendwann müssen wir auch für uns selbst einstehen.

Zitat von Kate:
Ich schon! Alleine dadurch, dass eine Depression zum Beispiel keiner anderen gleicht. Sie lässt sich in ihrem Ausmaß schlecht messen, genau wie Leid. Wenn du mit einer grusligen Vorgeschichte in eine Depression rutschst leidest du mitunter wie ein Hund.
Was nicht unbedingt passieren muss, wenn Du ein stabiles Umfeld hast und ganz andere Möglichkeiten und Ressourcen zur Verfügung hast.

Das alles zweifle ich gar nicht an. Ich schrieb schlicht, dass Menschen klinisch krank sein können, ohne zu leiden. Und das Menschen leiden können, ohne krank sein zu müssen. Für mich sind Leid und Erkrankung verschiedene Dinge, die oft miteinander einhergehen, aber eben nicht müssen.

Zitat von Kate:
Ich sprach von einer Wesensart und nicht von einer Persönlichkeitsstörung

Ja. Eben. Wesensart als Persönlichkeitsstil. Du fragtest, ob man für jede Wesensart eine psychische Diagnose finden könne (dann wahrscheinlich im Rahmen der Persönlichkeitsstörungen). Finde ich eben nicht. Denn Wesensart/Persönlichkeitsstil und Persönlichkeitsstörungen sind für mich zwar schwierig abzugrenzen, jedoch würde ich niemals meinen, jede Wesensart wäre diagnosebedürftig. Da wären ja alle Menschen krank.

16.02.2022 14:57 • #21


Kate
Zitat von Lischen:
Ja. Ich bin davon überzeugt, dass es zu großen Teilen die innere Selbstheilung und der Glaube daran sind, die Menschen heilen lassen. Ärzte, Medikamente, Therapien, das äußere Umfeld spielen natürlich mithinein. Aber schlussendlich heilt ein Mensch sich selbst. Und daran muss er glauben. Zumindest Anteile in ihm müssen daran glauben. Wenn er hingegen überwiegend glaubt, er könne nicht heilen, wird er auch nicht heilen.

Dein vorheriger Beitrag klang dann sehr pauschalisiert, jetzt klingt es hingegen logisch.

Zitat von Lischen:
jedoch würde ich niemals meinen, jede Wesensart wäre diagnosebedürftig. Da wären ja alle Menschen krank.

Ich schrieb, "wenn man darunter leidet"
und auch nicht diagnosewürdig, sondern behandlungswürdig!
Und ja es lässt sich für alles eine Diagnose finden! Dank unserer modernen Medizin könnte man faktisch jeden als krank ansehen, er muss nur oft genug zum Arzt, dann wird immer noch eine Hypochondrie draus.
Wahrscheinlich verstehst Du mich aber auch einfach nicht richtig.

16.02.2022 15:24 • #22


X
Zitat von Kate:
Könnte es nicht manchmal auch so sein, dass man für jede Wesensart eine psychische Diagnose finden kann?

Das schriebst du doch, für jede Wesensart eine Diagnose. Ich glaube auch, wir schreiben bissl aneinander vorbei...

16.02.2022 15:31 • #23


X
Klar, wenn man an einer Erkrankung leidet, ist sie wohl behandlungsbedürftig. Wobei ich mir da auch nicht sicher bin... Ist eben nicht immer so in meinen Augen.

16.02.2022 15:33 • #24


Kitten
Zitat von Lischen:
Ich bin davon überzeugt, dass es zu großen Teilen die innere Selbstheilung und der Glaube daran sind, die Menschen heilen lassen. Ärzte, Medikamente, Therapien, das äußere Umfeld spielen natürlich mithinein. Aber schlussendlich heilt ein Mensch sich selbst. Und daran muss er glauben. Zumindest Anteile in ihm müssen daran glauben.

Hallo Lieschen
Das klingt ja jetzt m.E. wirklich zu schön und fast utopisch, um wahr zu sein. Dass jeder Mensch Selbstheilungskräfte in sich mobilisieren kann, daran glaube ich ebenfalls. Aber halt nicht unbeschränkt und bei jeder Krankheit. Sonst wäre es ja insbesondere bei allen psychischen Erkrankungen dem fehlenden Glauben an die Heilung zuzuschreiben, dass man nicht gesunden kann?!?

16.02.2022 15:41 • x 4 #25


X
Nein, nicht unbeschränkt und nicht bei jeder Erkrankung. Aber doch zu erheblichen Anteilen.

Was ist mit all den Placebo-Studien? Und auch den Nocebo-Studien? Menschen, denen Morphin gespritzt wird und die gesagt bekommen, sie bekämen schlicht Kochsalzlösung, erfahren keine Verbesserung ihrer Schmerzsymptomatik. Weil sie nicht daran glauben. Die Wirksamkeit eines solch starken Medikamentes ist dahin. Weil diese Menschen nicht daran glauben. Was ist mit all den Affirmationen, mit denen Psychoherapeuten so oft arbeiten? Und die Wirksamkeit zeigen. Mit Autosuggestion? Mit autogenem Training? Etc.

Man kann sich krankes Organgewebe nicht gesund denken. (Bzw. da hört auch mein Glaube auf.) Aber da wo es innere Konflikte gibt, da kann man sich auf die eine Seite hin ausrichten und so Schritte zur Heilung gehen. Das ist meine ganz persönliche Meinung. Und es bleibt ja jedem Menschen frei, wie er es sehen möchte.

16.02.2022 16:13 • #26


aurora333
Wenn ich an meine schwierige bis sehr herausfordernde Kindheit zurückdenke ( geprägt von ständigen Entwurzelungen sowie einer schizoiden Mutter, die mich vehement ablehnte) sowie an die zum auch gelungenen Schritte und Zustände meines Erwachsenenlebens denke, dann betrachtete ich mich generell ( und das wurde mir immer wieder auch bestätigt) als Steh-Auf-Männchen.

Doch mit dem Jahren , besonders nach meiner sehr traumatischen Trennung und Scheidung , konnte ich mich immer schwerer erholen. Und trotz immer auch wieder guten Zeiten häuften sich die Traumata in meinem Leben. Es wurde immer klarer , dass ich meine Grenzen viel zu spät wahrhaben und verteidigen konnte. So war es mir auch erst mit 65 Jahren möglich mir selbst einzugestehen, dass der immer wieder kehrenden Misere ein frühkindliches Trauma ( Missbrauch durch den Vater) zugrunde lag.

Ich habe einiges leidenschaftlich getan ( und tue es noch, wenn auch im Moment grad nicht leidenschaftlich..dazu fehlt (noch) die Energie) in meinem Leben um meine Schäden zu bekämpfen, und Jahrzehnte lang auch fest daran geglaubt, dass fast alles möglich ist. War auch begeisterte Verfechterin der humanistischen Psychologie ! Doch heute muss ich mir eingestehen, dass niemand zaubern kann ( so sehr er das mache ) und ich dankbar bin für jeden Moment im Leben beschwerdefrei ist, und ich mich freuen kann.

Ich bereue nicht dass ich Jahrzehnte lang immer und immer wieder der Überzeugung war , das schaffen wir...doch ich bin auch dankbar, dass ich mittlerweile als ältere Frau auf den Teppich der Realität - eher unsanft gezogen - stehe.

Heute sage ich eher Es ist wie es ist..schauen was sich noch machen lässt. Und ich meine das jetzt nicht in erster Linie resignierend.

16.02.2022 16:14 • x 3 #27


Hope2021
Aurora, ich habe auch schon mal die Diagnose Dysthymie erhalten...aber ...ich weiß es nicht...meine Therapeutinnen sagten alle, was hat die Diagnose schon für eine Bedeutung? Und es ist auch so .Wichtig sind die Symptome und Folgen und wie ich lerne damit umzugehen...streng genommen ist Depression eigentlich auch ein Symptom und keine Diagnose ( seit ich in der Traumatherapie bin, sehe ich es nämlich anders)

16.02.2022 18:44 • x 1 #28


Kate
Zitat von Hope2021:
streng genommen ist Depression eigentlich auch ein Symptom und keine Diagnose

Ich halte es wenn schon, dann für eine Begleiterkrankung. Aber ein Symptom? Symptom von was?

Zitat von Hope2021:
was hat die Diagnose schon für eine Bedeutung?

Mir zum Beispiel ist eine Diagnose wichtig. Ich kann mich belesen, darüber gibts Bücher, man findet eher Gleichgesinnte und ich habe was Greifbares. So habe ich die Gewissheit, dass ich mir das nicht einbilde, und ich weiß dadurch auch wo ich stehe und was möglich ist.

16.02.2022 19:07 • x 1 #29


A


Hallo aurora333,

x 4#30


Hope2021
Symptom zum Beispiel eines Entwicklungstraumas, wie bei mir! Aber in der Traumaheilung ist Deutschland noch nicht soweit...leider

16.02.2022 19:16 • x 1 #30

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