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Leben mit Sozialer Phobie - nicht aufgeben / das hilft

L
Liebe Leser*innen dieses Posts,

was ich schreibe, mag vielleicht nicht ganz passend sein, aber ich möchte es gerne mit euch teilen.

Zufällig bin ich eben auf dieses Forum gestoßen und habe einige Beiträge gelesen. Es hat mich sehr berührt, denn viele der geteilten Gedanken kenne ich zu gut von mir selbst.

Schon als ich in den Kindergarten kam, wurde festgestellt, dass ich ein zu schüchternes Kind sei. Nach vielen schwierigen Jahren insbesondere in der Pubertät fand ich mich schließlich mit 18 Jahren suizidal mit richterlichem Beschluss (zwangseingewiesen) in der Psychiatrie wieder. Meine soziale Phobie hatte mich derart im Griff, dass ich mir nicht vorstellen konnte, noch weiter zu leben und ernsthaft plante, mir das Leben zu nehmen. Ich denke, ihr kennt das.

Heute bin ich Mitte 20 und kann von mir sagen, dass ich mich, abgesehen von immer wiederkehrenden leichteren depressiven Phasen, psychisch gesund fühle. Ich arbeite erfolgreich in einem sozialen (!) Beruf und bin im Großen und Ganzen mit mir selbst und meinem Leben zufrieden. Menschen, die mich heute kennenlernen, können sich kaum vorstellen, dass ich jemals schüchtern war. Das hätte ich mir früher nie vorstellen können! Der Weg war wirklich nicht einfach und sicher nicht geradlinig.

Ich weiß, ich bin noch sehr jung. Ich möchte hier nicht meine Geschichte als vorbildlich anpreisen oder so. Aber: Viele Geschichten und Gedanken hier lösen in mir das Bedürfnis aus, die Menschen dahinter herzlich zu umarmen. und sie dann kräftig zu schütteln und zu sagen: Sei nicht so verdammt hart zu dir selbst! Du bist ok so wie du bist! Du darfst schüchtern sein, komisch, langweilig, exzentrisch. (oder vielleicht dir auch nur denken, dass du so bist) aber bitte hasse dich nicht dafür. Du bist ok so wie du bist. Bitte nehmt mir meine Gedanken nicht übel. Es ist immer leicht, so daher zu reden, wenn das Leben gerade ganz gut läuft. Aber es schmerzt mich ein bisschen, zu sehen, dass andere ähnliches durchleben, und manche kein Licht am Horizont sehen.

Ich möchte daher allen Sozialphobiker*innen wünschen, dass sie auch einmal zurückschauen können, und dann stolz auf das sind, was sie da alles geleistet haben! Ihr seid völlig richtig wie ihr eben seid, im Ernst.

Sicher können auch andere Geschichten von sich erzählen, auf die sie stolz sind? Ich würde mich freuen, welche zu hören.

Herzliche Grüße, lulou

27.09.2020 23:43 • x 10 #1


Ilse77
Liebe lulou,

das hast du sehr schön formuliert.
Ich habe mich am Freitag zum ersten Mal in meinem Leben so richtig bei jemand fremden beschwert, höflich aber äusserst deutlich. Und es wurde gut angenommen. Auch ein Lernprozess, den ich weiter verfolgen möchte.

Nicht aufgeben.

Lg ilse77

28.09.2020 07:42 • x 3 #2


A


Hallo lulou,

Leben mit Sozialer Phobie - nicht aufgeben / das hilft

x 3#3


Lost111
Hallo lulou,

danke für deinen aufmunternden Post.

Ich kann stolz auf mich sein, weil ich nach schweren Anfangsmonaten damals heutzutage relativ normal mit meinen Arbeitskollegen reden kann. Das war 2013, und ich erinnere mich noch wie heute daran, wie aufregend und panisch das damals für mich war.
Aktuell kann ich stolz darauf sein, dass ich mit meinem HA über ein mir sehr nahegehendes Thema sprechen konnte.

LG Lost111

28.09.2020 21:18 • x 2 #3


E
Mich würde interessieren, wie du das geschafft hast... Bist du immer mehr auf andere zugegangen um aus deiner Komfortzone rauszukommen?

04.10.2020 21:21 • x 3 #4


L
Liebe Elli,

das ist eine gute Frage, die ich gar nicht so leicht beantworten kann. Ich würde sagen, dass es ganz viele Faktoren waren, die mir letztlich geholfen haben mit der sozialen Phobie fertig zu werden.
Der Wendepunkt war für mich, als ich mit dem Rettungsdienst in die Psychiatrie zwangseingewiesen wurde. Ich dachte, das sei das Schlimmste, was mir in meinem Leben passieren konnte, und mir war auf einmal alles egal, auch was andere von mir dachten. Die Zeit in der Psychiatrie hat mir sehr gut getan. Ich konnte so sein, wie ich eben war, ohne das es irgendeine Rolle gespielt hatte. Ich habe andere seltsame Leute kennengelernt und bemerkt, dass es anderen schlechter geht als mir (was trotzdem kein Grund ist, sich keine Hilfe zu holen!) und auch dort Freunde gefunden. Mein Heilungsprozess hat aber noch ganz lange gedauert. Immer wieder war ich an Punkten, an denen es mir sehr schlecht ging. Ich habe aber immer besser gelernt, damit umzugehen.
Es waren auch viele Dinge von außen, die eine Rolle gespielt haben. Menschen, die mir gut getan haben, und Dinge, die mir Selbstbewusstsein gegeben haben (Studium, Beruf, Beziehung). Letztlich habe ich in Bezug auf die Angst gelernt, dass es wichtig ist, sie als solche zu erkennen. Eine soziale Phobie schafft es, dir einzureden, etwas würde mit dir nicht stimmen, du seist falsch (während alle anderen richtig sind), Menschen würden dich verurteilen dafür wie du wirklich bist. Lustig ist, dass nur diese Gedanken letztlich dazu führen, dass die Dinge, die man befürchtet, eintreten.
Der entscheidende Schritt ist für mich daher nicht, dass ich mich selbst oder mein Verhalten verändert habe. Zuerst habe ich meine Gedanken und mein Verhalten mir selbst gegenüber verändert. Ein Satz der mir sehr geholfen hat ist Ich bin okay - du bist okay. Kommt aus irgendeiner psychotherapeutischen Methode. Ich habe gelernt mich so zu akzeptieren wie ich bin - auch wenn ich schüchtern, komisch oder ängstlich bin, na und? Ich habe aufgehört, mich selbst dafür zu verurteilen und mich zu hassen. Ich werde manchmal rot, das ist peinlich und unangenehm, ich weiß oft nicht was ich sagen soll in sozialen Situationen, das ist auch heute manchmal noch so...aber am Ende des Tages vergesse ich das wieder und mache weiter und alle anderen haben es längst vergessen, denn es spielt keine Rolle.
Ich habe auch bemerkt, dass man soziales Verhalten ganz aktiv lernen kann. Ich suche mir gerne ein Vorbild, zum Beispiel eine kommunikative Person, die leicht Anschluss findet. An deren Verhalten kann ich abschätzen, wie sozial angemessenes Verhalten aussieht. Klingt autistisch, aber nach jahrelangem sozialphobischen Verhalten sind mir durchaus ein paar soziale Kompetenzen verloren gegangen. Die Soziale Phobie hat mich allerdings gelehrt, mich hochflexibel an mein Umfeld anzupassen, um nicht aufzufallen. Was fachlich als überangepasstes Verhalten bezeichnet wird, kann aber auch eine große Stärke sein.
Letztlich hat mir auch der Gedanke geholfen, dass unsere Gesellschaft Extrovertiertheit völlig überbewertet wird. Ja, leider wird wer am lautesten schreit meistens am besten gehört, aber das heißt ja nicht das der Inhalt auch stimmt...Gegen die Abwertung von schüchternen Menschen wehre ich mich sehr. Warum das Maß aller Dinge selbstbewusste, laute Menschen sein sollen, verstehe ich nicht. Leider basiert vieles in unserer Gesellschaft auf diesem Gedanken (man denke an mündliche Noten in den Schule - wieso wird ein Kind, dass sich nicht vor einer großen Gruppe äußern kann, derart benachteiligt? Ich mag es bis heute nicht, vor vielen Menschen zu sprechen, und arbeite, wie erwähnt, erfolgreich in einem sozialen Beruf. Das widerspricht sich nicht, denn wir alle haben Stärken und Schwächen). Naja, das ist ein anderes Thema.

Abschließend kann ich wohl sagen, dass mir wohl so einige Aspekte dazu einfallen, aber ein Rezept gibt es leider nicht... am wichtigsten scheint mir aber, dass man sein Selbstwertgefühl stärkt oder auch erst neu entwickelt, und sich auch von vermeintlichen Rückschlägen nicht verschrecken lässt. Alles weitere kommt von selbst.

Ich hoffe, du kannst damit etwas anfangen LG lulou

09.10.2020 22:02 • x 4 #5


Ilse77
Liebe @lulou ,
du sprichst mir aus der Seele.
Ich habe vor einiger Zeit auch ein schönes Buch zum Thema Introvertiertheit gelesen, ich glaube es hieß auf die leise Weise.
Mir half auch der Gedanke, dass meine zurückhaltende Art in anderen Kulturen, z.B. im asiatischen Raum, sehr vorbildhaft wäre. Ist also alles Ansichtssache.

Lg ilse77

09.10.2020 22:41 • x 1 #6


B
Zitat von lulou:
Menschen, die mich heute kennenlernen, können sich kaum vorstellen, dass ich jemals schüchtern war. Das hätte ich mir früher nie vorstellen können! Der Weg war wirklich nicht einfach und sicher nicht geradlinig.

Kann ich von mir auch so berichten.

Als Kind war ich sehr schüchtern und zurückhaltend und habe nie den Mund aufgekriegt, bei Fremden schon gar nicht. Tatsächlich war ich in der Schule so ruhig, dass mich die Lehrer mündlich eigentlich gar nicht bewerten konnten. Immer wieder wurde mir gesagt, ich müsse auch mal was sagen. Das hat dann so weit geführt, dass ich zu einer Psychologin geschickt wurde. Ich habe zwar nicht mehr viele Erinnerungen an die Behandlung, weiß aber noch, dass sie nicht viel gebracht hat.

Diese Introvertiertheit hat sich dann noch bis Mitte meiner 20er so fortgesetzt. In dem Familienbetrieb, in dem ich Praktikum und Ausbildung gemacht und über 10 Jahre gearbeitet habe, ging es mit der Zeit immer besser. Aber da waren es auch immer dieselben Leute um mich herum, also hat sich eine gewisse Routine eingestellt. Wenn allerdings Kunden kamen, bin ich diesen Kontakten (so gut es ging) immer aus dem Weg gegangen und habe es den Kollegen überlassen. Ich bin dann ungelogen in irgendeine hintere Halle gegangen oder habe mich auf die Toilette vekrümelt.

Mit der Zeit hat sich das aber immer weiter gebessert, was nicht zuletzt auch an meiner Frau lag, die ich mit Ende 20 kennengelernt habe. Ich weiß nicht, warum ich dann kontaktfreudiger wurde, aber vermutlich lag es einfach an meinem gesteigerten Selbstbewusstsein, dass ich nun auch auf andere Menschen offener und nicht mehr so scheu zugehen konnte. Ich habe da wirklich nichts forciert, es hat sich im Grunde ganz von allein ergeben.

Was für mich heute ein Hilfsmittel ist, wenn ich das Gefühl habe, mich mal wieder zu isolieren: Ich höre mir Podcasts an oder schaue irgendwelche Interviews. Einfach nur zu sehen, wie fruchtbar und interessant ein Austausch mit anderen Leuten sein kann, motiviert mich dazu, mich z.B. mal wieder bei Freunden zu melden. Zugegeben, ich suche dann logischerweise keinen Smalltalk oder dergleichen, sondern einfach nur gute Gespräche.

Es ist aber nicht so, dass ich nun extrovertiert geworden wäre oder permanent Kontakt zu anderen Menschen suchen würde. Nach wie vor komme ich mit mir selbst noch am besten klar und kann mich gut beschäftigen. Mir ist auch weiß Gott nie langweilig. Aber ich habe es zumindest geschafft, keine Scheu mehr vor anderen Leuten zu haben - und mehr will ich auch gar nicht.

10.11.2021 03:48 • x 1 #7

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