Ergänzung zum Post, dass jede:r sich in einer Familie entfalten können soll:
Das kann natürlich bedeuten, dass Prioritäten anders verteilt werden müssen. Wenn ökonomische Möglichkeiten an oberster Stelle stehen, dann wird es eng für Wahlmöglichkeiten, was die Entfaltungsmöglichkeiten betrifft.
Es klang ja bereits vorhin an, dass Frauen in Familien mit sehr kleinem Einkommen von Ungerechtigkeiten hinsichtlich ihrer Entfaltungsmöglichkeiten betroffen sind.
Bei vielen anderen gäbe es aber Möglichkeiten durch die Verringerung des Lebensstandards mehr Handlungsmöglichkeiten für das eigene Wohlfühlen im Leben zu bekommen. Das ist dann vermutlich irgendwo auch ein falsches Zeichen für die Politik, wie ich finde, aber es schließt ja nicht aus, trotzdem für mehr Gerechtigkeit bei der Verteilung des Reichtums zu kämpfen.
Ich kann das hier mit der Senkung des Lebensstandards so locker raushauen, weil ich das schon immer so mache. Auf Grund meiner Erkrankung musste ich mich schon immer entscheiden, ob ich ein Hobby haben kann und Sozialkontakte oder ob ich voll arbeite. Die Zeit für Therapien und die viel längere Zeit, die ich benötigt habe, um meine Akkus aufzuladen und meine Arbeit zu schaffen, hätte meinen ganzen Tag gefüllt, wenn ich voll gearbeitet hätte. Ich wollte aber in einer Band spielen. Wenn dann andere Bandmitglieder mit Entschuldigung ankamen, warum dies oder jenes zeitlich oder finanziell nicht gehe, musste ich mir immer auf die Zunge beißen, um sie nicht zu belehren, dass doch auch für sie das alles eine Frage der Priorisierung sei. Haus im Grünen, zwei recht neue Autos, Urlaube mit Kinderbetreuung, Hundepension: das erfordert halt zwei volle Einkommen. Demgegenüber wir mit 60qm für drei Personen in einer Etagenwohnung, jahrelang nur ein altes Fahrrad und kein Auto, jetzt eines, das 20 Jahre alt ist, Urlaub auf dem Bauernhof im nächsten Mittelgebirge.
Das Hobby habe ich nun sehr reduziert wegen der Familie. Aber ich wollte ja ein Kind und kann nicht ganz verstehen, warum Menschen ein Kind möchten und danach möglichst schnell ihr altes Leben zurück möchten. Dabei bin ich nicht weniger egoistisch. Ich habe mich für ein Kind entschieden, weil ich eine Veränderung im Leben wollte. Und ich entscheide mich jetzt für weniger Geld, weil ich mein Kind erleben will. Ich betreue meine Mutter so gut es geht, und auch hier setze ich Prioritäten, weil ich gerne die Zeit, die sie noch am Leben ist - bei allen Konflikten, die ich mit ihr habe - als reich an Zwischenmenschlichkeit erleben möchte.
Ich finde es bedauerlich, dass ich häufig die Formulierung höre, dass die Care-Arbeit in der Familie gleich verteilt werden muss, weil damit implizit gesagt wird, dass es auf jeden Fall etwas Lästiges ist, das dem eigentlichen Leben im Weg steht.
Wer Care-Arbeit in der Familie als etwas empfindet, das ihn unterfordert, nervt und abstößt, dann ist das für mich in Ordnung und dann sollten andere Möglichkeiten gefunden werden. Aber daraus abzuleiten, dass es für alle Menschen, die es tun, die Lebensqualität einschränkt, finde ich bedauerlich.
Morgen werde ich wieder meine Mutter besuchen, einkaufen, etwas reparieren, etwas putzen und die Post mit ihr durchgehen. Es wird mich auf die Palme bringen, dass sie wie immer sagt, dass es ihr heute besonders schlecht gehe und dass das vermutlich am Wetter liege. Ich bin mir aber relativ sicher, dass es die richtige Entscheidung ist, das so zu tun. Und außerdem findet meine Frau das gut, dass ich das mache, und das wiederum finde ich klasse. Aber es kostet mich bares Geld und Altersversorgung.
Was meine Frau und ich machen, ist ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Können wir unter diesen Umständen unserem Kind das Sprungbrett fürs Leben bieten, das es benötigt um zufrieden zu werden? Manchmal habe ich Angst, das zu vergeigen.
25.01.2022 21:24 •
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