Erinnerungen von Misshandlungen in der Kindheit

A
Ich habe mich gestern mit meinem Freund lange über meine Kindheit unterhalten. Uns ist dabei aufgefallen, dass meine Erinnerungen sehr selektiv sind. Ich habe Unmengen von Bildern im Kopf - ziemlich grauenhafte Bilder - aber ich kann keine davon zeitlich zuordnen. Ich weiß nicht was wann und warum passiert ist; ich weiß nur dass es passiert ist.
Ich habe wenige schöne Bilder von dieser Zeit im Kopf, aber das sind alles Fotos. Fotos, die ich gesehen habe, und auf denen Bilder einer netten Familie zu sehen sind - meiner Familie.

Ich hatte alle Misshandlungen verdrängt, bis ich das erste Mal in einer Klinik war. Da kam alles hoch und zwar mit aller Kraft. Aber ich habe nicht das GEfühl irgend etwas davon so richtig verarbeitet zuhaben.
Ich weiß gar nicht so recht, was das heißen soll: Verarbeiten.

Was macht ihr mit euren Erinnerungen? Tauchen die bei euch auch manchmal einfach auf und nehmen euch in den Würgegriff? Einfach so und ohne Vorwarnung?

Ich frage mich, ob es besser ist, zu vergessen, oder sich damit auseinanderzusetzen. Und, wenn die Antwort auseinandersetzen ist, frage ich mich, wie das aussehen sollte.

Hat einer von euch Erfahrungen zu dem Thema?
Ich würd mich sehr, sehr über Antworten freuen!!!

Lieb Grüße,

Annuschka

21.09.2009 14:12 • #1


A
Hallo Annuschka!

Ja, das tun sie - die Erinnerungen ... sie kommen meist unerwartet, dann wenn ich sie am
Wenigsten gebrauchen kann. Sie überfallen mich wie eine Gruppe von Terros mit MG im Anschlag ...
bedrohen mich, zwingen mich in die Knie. Immer mal wieder und immer mal wieder was neues.

Manchmal kann ich standhalten - manchmal aber auch nicht.

Verarbeiten - ja was heißt das?

Ansehen - akzeptieren, was passiert ist und dass es passiert ist.
Vielleicht auch verstehen warum es passiert ist - aber manchmal ist das nicht wichtig.

Meine Thera sagte mal: Verarbeiten ist, wie einen schlimmen Horrorfilm immer und immer wieder zu schauen.
Zuerst ist man geschockt, bekommt Gänsehaut - vielleicht auch Angst ...
Je öfter man aber den Film anschaut, desto genauer weiß man was wann kommt - und man beginnt, NICHT mehr zu erschrecken ...
irgendwann kennt man den Film in-und auswendig und schaut gar nicht mehr hin. Man weiß dass es ihn gibt, aber man guckt ihn nicht
mehr an ...

Wichtig ist, dass man lernt seine Gefühle zu kennenzulernen und zuzuordnen, also den Situationen und so.
Man muss wissen: das, was da jetzt hochkommt ist was altes und hat mit meinem Partner zB gar nichts zu tun - auch wenn sein Verhalten irgendwas ausgelöst hat. Nicht einfach, unsere Aufgabe ... aber wenn man am Ball bleibt ist es möglich, dass man zu einem Leben findet/zurückfindet!

Eine Userin hat mal geschrieben: Meine Mutter war SO, wie sie zu der Zeit sein konnte - hätte sie besser sein können,
wäre sie es gewesen. So geht es mir auch. Man muss irgendwie lernen zu verzeihen - NICHT zu entschuldigen, sondern zu verzeihen.

Was schreib ich eigentlich, passt gar nicht auf die Frage irgendwie ...

Egal, ich lass es stehen.


Angie

21.09.2009 15:24 • #2


A


Hallo Annuschka,

Erinnerungen von Misshandlungen in der Kindheit

x 3#3


A
Danke für die Antwort, liebe Angie. Ich finde schon, dass es passt

Ich glaube wichtig ist vor allem, die Sache mit den Gefühlen - also sie zuordnen zu können, dem richtigen Auslöser und der richtigen Situation, denn dieses Auslassen am Falschen kenne ich nur zu gut. Und immer an den Menschen, die einem am nächsten sind, also dem Partner oder an einem selber... Schon komisch eigentlich.... Und damit ist man seinem Widersacher so viel näher, als man glaubt...

Zitat von Alannis:
Eine Userin hat mal geschrieben: Meine Mutter war SO, wie sie zu der Zeit sein konnte - hätte sie besser sein können,
wäre sie es gewesen. So geht es mir auch. Man muss irgendwie lernen zu verzeihen - NICHT zu entschuldigen, sondern zu verzeihen.


Damit habe ich die allergrößten Probleme! Ich kann es einfach nicht. Ich bin immer Verfechter der Ansicht, dass man - zumindest bis zu einem gewissen Grad - die WAHL hat. Sich ENTSCHEIDEN kann. Und ich glaube niemand muss sich dazu entscheiden, Kindern so etwas anzutun. Vielleicht kommt eine andere Sicht mit der Weisheit des Alters... , aber zur Zeit ist mir das unmöglich. Eben auch weil von der anderen Seite nie etwas anderes kam, als Verleugnen der ganzen schrecklichen Dinge, die geschehen sind; nie eine Entschuldigung, oder irgend etwas in der Art.
Mich macht das alles sehr wütend, immer noch. Und diese Wut möchte ich eigentlich loswerden. Und damit diese überfallartigen Erinnerungsbilder.

Immer wieder anschauen sagst du. Das klingt unheimlich anstrengend. Obwohl ich hier in diesem Text überhaupt nichts benenne, kommt ganz viel hoch, Gefühle stauen sich an, Wut, Hass, Trauer, alles. Und das obwohl ich nur an der Oberfläche kratze. Was also soll passieren, wenn man sich das immer und immer wieder anschaut. Das macht mir Angst...
Bist du diesen Weg gegangen? Kannst du darüber ein wenig berichten?
Oder jeder andere?


Liebe Grüße, Annuschka

21.09.2009 19:07 • #3


A
Anschauen sollte man das am Besten mit einem guten Therapeuten an der Seite -
hab ich vergessen zu schreiben, da ich dachte, das sei klar - sorry!

Ja, es kann sein, dass eine andere Sicht der Dinge im Älterwerden kommt.

Ich habe 3 Kinder (23, 15 und 13) und weiß inzwischen, wie schmal der Grat sein kann
zwischen gut meinen und gut tun ... Im Nachhinein aber ist es so, dass ich immer das getan habe, was
ich zu der Zeit entweder nicht anders tun konnte oder für am richtigsten hielt.

Kennst Du das Lied Kaputt von Wir sind Helden? Das spiegelt zum teil was wieder.

Sicher bekommst Du auch noch andere Antworten.

Liebe Grüße, Angie

21.09.2009 19:28 • #4


A
Hallo,

es war mir schon klar, dass du das so meintest, aber selbst das scheint mir so schwer. Hingucken muss man ja dennoch allein, denn nur man selbst kann es ja sehen.

Ich sehe es auch so, dass man Dinge versehentlich falsch machen kann, es gut gemeint, aber eben nicht gemacht hat. Das halte ich - natürlich - auch für verzeihlich, vielleicht sogar entschuldbar. Aber es gibt eben Dinge, die weit, weit, weit darüber hinausgehen...

Kann man denn vergessen, oder holt es einen doch nur wieder ein?

Wenn doch ein Gespräch nicht möglich ist, und alle nur so tun, als wäre nie etwas gewesen, wenn es verleugnet, einem diese Erinnerungen einfach abgesprochen werden, wenn derjenige ein normales Leben führt, nur man selbst nicht. Wenn es unfair ist????

Kindisch, ich weiß...

22.09.2009 14:04 • #5


A
Nein, es ist nicht kindisch.
Nur ist es oftmals müßig über all das Unabänderliche nachzudenken und nachzudenken und nachzudenken ...
Bei all dem Nachdenken geht so vieles andere an einem vorbei.

Mir fällt es auch schwer (mal mehr mal weniger) zu begreifen, dass mir in bestimmten Dingen aus der
Vergangenheit niemals Gerechtigkeit widerfahren wird...

Nun liegt die Wahl bei mir: reibe ich mich daran auf (und es ändert sich trotzdem nicht und frißt meine ganze Kraft)
oder versuche ich es als gegeben hinzunehmen und mach für heute das Beste daraus ...?

Zitat:
Kann man denn vergessen
Nein - vergessen wird man NIEEE, aber man kann versuchen daran zu arbeiten, dass
die Erinnerung nicht mehr weh tut - das ist das, was uns bleibt.
Das Geschehene als unsere Vergangenheit zu akzeptieren und zu verändern, was wir verändern KÖNNEN - in uns
und um uns herum.

Alles Liebe,
Angie

22.09.2009 15:21 • #6


HeKate
Hi Annuschka,

ich glaube ich kann Dich etwas verstehen, mir geht es oft genauso wie Dir. Ich kann überhaupt erst seit kurzer Zeit meine Erinnerungen einordnen... und das hilft wirklich! nochmal in die Kinderperspektive zu gehen, es nochmal genauso zu fühlen wie es damals war und dann mit dem wissen von heute sich klarzumachen, was das eigentlich war, was passiert ist. als kind hast du nur das gefühl, man ist nur das opfer und sieht das ganze drumherum nicht. als erwachsener kann man anders mit dem erlebten umgehen, aber dazu muss man leider den weg zurückgehen und alles nochmals durchleben (emotional). was mir auch schon manchmal geholfen hat, war, die TÄTERPERSPEKTIVE einzunehmen, so etwa was hat eigentlich meine Mutter/Vater etc. in dieser Situation gefühlt, warum hat sie/er das getan. war ich wirklich so wenig wert? ... und glaub mir das tut weh :-) aber danach kannst du mit anderen augen auf die situation blicken und dir wird klar, ja so war es, aber ich bin nicht mehr so wie damals, ich hab überlebt und gehe jetzt weiter. aber vorsicht: der hass auf die täter könnte schwinden ;-)

so ungefähr :-)

in diesem sinne
lg
Maria

23.09.2009 00:53 • #7


A
Liebes Goldauge!

Danke für deine Antwort

Tatsächlich habe ich gar keinen Hass auf die Täter. Zumindest nicht mehr. Ich bin eher fassungslos...Resigniert ein wenig. Fassungslos trifft es besser...

Ich KANN nicht verstehen. Vielleicht will ich das aber auch nicht. Jedes Mal, wenn ich darüber spreche, beginne ich unkontrollierbar zu zittern. Es hat mich noch zu sehr im Griff, obwohl ich doch kaum richtige Erinnerungen habe. Das Gefühl ist noch da. Die Angst des Kindes zu sterben - die ist noch da, und das in den unmöglichsten Situationen.

Die Täterperspektive einnehmen... Das macht mir extreme Angst.
Eine der größten Ängste, die über meinem Leben schwebt ist die, so zu werden wie sie. Immer und immer wieder untersuche ich mich selbst nach Ähnlichkeiten. Entdecke ich welche, muss ich sehr aufpassen, dass ich nicht mich beginne hemmungslos zu hassen.
Versetzte ich mich nun in die Täterperspektive, verstünde, wäre ich doch - zumindest in Gedanken - wie sie. Das kann ich nicht, will ich nicht, darf ich nicht.

Oder hilft es, ist es gut...???

20.10.2009 18:22 • #8


A


Hallo Annuschka,

x 4#9


C
Also,die Täterperspektive einnehmen,das würde ich niemals tun!Was juckt es mich denn,wie Verbrecher und Gewalttäter denken oder was sie fühlen???So etwas WILL ich gar nicht verstehen!
Ich denke,daß man da schon trennen muß!Wenn meine Eltern manches falsch gemacht hätten aus Unwissenheit oder weil sie es eben erst lernen mußten,ja,DAS könnte ich nachvollziehen!Hin und wieder mal ne Tracht Prügel oder so,oder daß meine Mutter selbst Opfer s*x. Gewalt in ihrer Kindheit war,auch DAS kann ich nachvollziehen!
Aber ich bin wie Annuschka ganz deutlich der Meinung,als Erwachsener hat man IMMER die Wahl,ob man selber sowas weiter mit anderen macht,oder sich Hilfe holt!
Und außerdem:Noch nie hat sich auch nur einer meiner Täter jemals bei mir entschuldigt!Nein,da wird totgeschwiegen!Da werde ICH noch als Lügnerin hingestellt!Nee,für solches Tun WILL ich kein Verständnis haben!

Was ich anfangs meinte,daß sind Verbrechen.Mißhandlungen,S*dismus,Perverses,Folter.R*tueller,s*x*eller,körperlicher und emotionaler M*ßbrauch.Und so etwas ist UNENTSCHULDBAR!Und da will ich auf gar keinen Fall Verständnis für aufbringen oder die Täterperspektive einnehmen!!!

Entschuldigt bitte meine Heftigkeit,aber ich habe viel zu lange dabei zugesehen,wie derlei Verbrechen verharmlost und runtergespielt wurden.Ich tue das nicht mehr und trau mich da auch inzwischen meinen Mund aufzumachen!

Was ich oben beschrieben habe,habe ich die ersten 15 Jahre meines Lebens durchmachen müssen.Dann hab ich mich das erste Mal gewehrt...
Heute mit MItte 40 kann ich sagen,daß ich soweit verarbeitet habe,um damit klarzukommen.VORBEI wird es niemals sein!Ich vergleiche das gerne mit jemand,der plötzlich querschnittgelähmt ist und nen Rollstuhl braucht:der hat auch plötzlich ne völlig veränderte Perspektive (da er sitzt),und er muß ganz neue Wege finden,sich sein Leben zu erobern.Er wird trotzdem immer irgendwelche Einschränkungen haben,die andere nicht kennen.Aber er kann trotzdem jede Menge Lebensqualität haben!

Vergessen können wäre schön,geht aber nicht!Auch dieser viel zu oft gehörte Satz Laß doch die Vergangenheit ruhen,das geht nicht!Mir hat auch geholfen,was Goldauge schon beschrieben hat : Nochmal,aber als Erwachsene,reingehen in das Erleben des Kindes in mir.Die Gefühle ertragen,aber auch als Erwachsene die Kleine in mir aus dieser ohnmächtig ausgelieferten Situation befreien.Traumakonfrontation nennt sich das wohl.Da braucht es allerdings vorher schon ne ordentliche Portion Stabilisierung und man sollte schon gut gelernt haben,sich aus Dissoziationen etc. selbst wieder rauszuholen,bzw. sowas von vornherein abfangen können,bevor man weg ist.

Ich hab das in ner ambulanten Traumatherapie gelernt,die ich vor 4 Jahren ein Jahr lang gemacht hab.Da hab ich mein Handwerkszeug gelernt und mein Therapeut hat mir v.a. sehr viel Selbstmanagement beigebracht.

Gerechtigkeit werden wir wohl in diesem Leben nicht kriegen.Aber ich hab mir erlaubt,mir in der Phantasie vorzustellen,was meine Kleinen in mir denn mit den Tätern alles anstellen möchten...,welche Strafen sie sich wünschen für sie...Und da kommt einiges zusammen,weil es neben meinen Eltern (die Täter und nicht nur Mittäter oder Dulder waren) eine Vielzahl an Tätern gibt.
Überhaupt hat mir von Anfang an am meisten geholfen,mir Erinnerungen an solche Szenen zu nem positiven Ende zu phantasieren.Und in der Phantasie ist ja alles erlaubt.Das hat vieles in mir zur Ruhe gebracht.

Dann die Gefühle.Zuordnen ist bei mir auch ganz wichtig!Da ich ja multipel bin,war das nicht immer so einfach.Zu manchen Innenpersonen fehlte anfangs jeder Kontakt,jede Wahrnehmung.Heute bin ich so weit,daß wir alle ganz nah beieinander sind,z.T. schon integriert,ansonsten aber wenigstens ne Einheit bilden.
Wichtig war und ist,auf alte Gefühle die richtige Antwort zu finden.Wir haben uns z.B. für unsere 3jährige innere Idealeltern ausgedacht.Auch da lief viel über Phantasie.
Oder die Wut.Da hab ich mal für unsere 5jährige nen Pappe-Mann gebastelt,schön groß,den durfte sie dann zerfetzen und zerlegen...Aber v.a. Wut gehört sich sehr gut abgesichert und von nem Thera begleitet,weil da immer die Gefahr dabei war,bei mir jedenfalls,daß ich dissoziiere oder in ne andere Person wechsle und dann die Post abgeht mit auf mich oder andere tatsächlich losgehen.Hinter der Wut steckt nämlich meist ne gehörige Wucht!

Ich seh schon,ich schreib mal wieder nen ganzen Roman!Aber trotzdem noch kurz zum Vergeben:
Das ist mein Ziel auch,z.T. hab ich das auch schon erreicht.Nicht dieses billige Kurzschlußvergeben,was man so allgemein aus der Kirche kennt.Sondern eher ein Entlassen aus der Schuld mir gegenüber,denn diese Schuld wird mir vom jeweiligen Täter ja sowieso nicht mehr beglichen.Und bevor mich da der Haß und die Bitterkeit auffressen,entlasse ich ihn da lieber...
Ändert aber nix dran,daß ich nach wie vor einem jeden meiner Täter die Pest an den Hals wünsche!

21.10.2009 12:56 • #9

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